Donnerstag, 2. Mai 2019

Die Ampel ist rot, aber "Mutter Heimat" ist ein Muß!

2.5.19


Wir haben einen genauen Zeitplan, der sich nach den Schleusenzeiten richtet, und befinden uns auf dem Weg von Rostov nach Wolgograd.
Der Tagesplan verkündet: 15 Uhr Ankunft in Wolgograd, und um 15 Uhr sollen wir auch schon in den Bus springen und zügig losfahren zum Mamajew Hügel, von dem aus die riesige Statue "Mutter Heimat" blickt soweit sie kann.
Um 19 Uhr wollen wir dann schon auf dem Weg sein von Wolgograd in das 500 km entfernte Astrachan.
Soweit der Plan. Und nun folgt die Wirklichkeit.

Schon vor 6 Uhr morgens stehen wir vor dem fest verschlossenen Schleusentor der Schleuse Nummer 7 des Wolga- Don- Kanals. Ein Elektrokabel sei defekt, heißt es. Also bleibt die Ampel auf Rot. Die Schleusentore bewegen sich nicht. Wir müssen warten.

die Ampel steht auf ROT
Nach fast 4 Stunden Wartezeit gehen die Tore endlich auf, und wir können in die Schleusenkammer einfahren.

Einfahrt in die Schleuse

das Tor hat schließt sich hinter uns

Es fasziniert mich immer wieder, dabei zuzuschauen.

keiner will etwas verpassen
Wasser strömt ein










... und weiter geht die Fahrt.

Die Schiffsleitung hat heute viel um die Ohren. Wie kann man unter diesen Umständen den Zeitplan einhalten?
Mittlerweile hinken wir 6-7 Stunden hinter unserem Plan hinterher.
Vor uns liegen noch 8 Schleusen, die das Schiff vom Wolga- Don- Kanal treppenartig bergab bis auf das Niveau der Wolga bringen sollen.
An der letzten Schleuse heißt es, die Augen aufhalten! Da steht die weltgrößte Leninstatue.
Daraus wird aber nichts, denn bei Schleuse Nummer 8 wird jetzt pausiert, und Lenin kann nur der bewundern, der in der Nacht nicht schlafen kann.
Jetzt schippern wir erst einmal gemütlich auf dem Kanal, können die Landschaft genießen. Es geht vorbei an einer kleinen Ansiedlung mit überwiegend neuen Häusern und gemütlichen Angelplätzen. Viel los ist nicht hier. Zum Betreiben von Landwirtschaft ist es hier zu trocken und, falls ich es richtig in Erinnerung habe, der Boden immer noch ein wenig zu salzig.








 Die Schleuse Nummer 8 naht, wir kommen flott voran.

Fast geschafft. Nur noch das Wasser muss raus aus der Kammer.

Jetzt kann der Ausflug bald losgehen.

Wir werden so bald wie möglich in Bussen, die man aus Wolgograd herbeirufen konnte, dorthin und später wieder zurück gebracht.
Innerhalb von 20 Minuten muss alles gepackt sein. Eigentlich war eine viel spätere Abfahrt vorgesehen, aber die Busfahrer haben wohl Vollgas gegeben.
Einige Leute vom Schiff liegen bereits mit Magen- Darm Problemen in ihren Kabinen und bleiben auf dem Schiff. Auch Ute und ich sind eigentlich geneigt, nicht mitzufahren. Durch die plötzliche Abfahrt zur raschen Entscheidung gezwungen versuchen wir es einfach.
Es geht mir zwar zunehmend mieser, aber irgendwie hat meine Energie dann doch für den Tag gereicht.

die Busse warten schon

Die Stadt ist in ihrer Fläche ziemlich groß. Das gesamte Wolgograder Gebiet zieht sich 80 km am Fluß entlang. Sie hat mehr als 1 Million Einwohner.
Da Wolgograd fast völlig zerstört wurde im „Großen Vaterländischen Krieg“, gibt es viele Neubauten. Aber in einigen Stadtbezirken, durch die wir fahren, sehen wir trotzdem noch eine Menge prächtiger alter Bauten und schöne alte Wohnblocks.
Zuerst steuern wir die berühmte riesige Statue "Mutter Heimat" auf dem Mamajew- Kurgan (oder Mamai- Hügel) an. Mamai war ein Heerführer der goldenen Horde aus dem 14. Jahrhundert.

Die 200 Stufen, die man bis ganz oben steigen muss, verteilen sich auf mehrere Abschnitte. Dazwischen gibt es immer wieder monumentale Denkmäler.
200 Stufen symbolisieren die Anzahl der Tage, die Stalingrad belagert war, nämlich vom 17.Juli 1942 bis zum 2. Februar 1943.

             
                                                                                                                                                 


Von der Strasse aus erreicht man zunächst eine Art Empore, natürlich auch mit einem großen Monument und dann geht es hinauf auf das riesige Areal der Gedenkstätte.
Zu Beginn des Weges nach oben flattern beidseits einer Pappelallee eindrucksvoll unzählige rote Fahnen im Wind. Die Sonne scheint, es ist warm, besser könnte das Wetter für unsere Besichtigung kaum sein.


 Dann erreicht man die Skulptur eines Soldaten mit nacktem Oberkörper, der eine Granate und ein Maschinengewehr hält. Er steht einem flachen Teich. "Bis zum Tode Stehen" heißt diese Skulptur.


Auf halber Höhe hat man einen guten Blick bis zum Fußballstadium von der Fußball WM 2018 an der Wolga.


Die Treppen werden jetzt breiter und sind nun massiv begrenzt durch beidseitige Ruinenmauern, auf denen wichtige Daten und Kriegsszenen dargestellt sind. Aus den  Wänden dringen ununterbrochen kriegerische Kampfgeräusche hervor und authentische Berichte von der Kriegsfront werden abgespielt. Nicht nur hier habe ich eine Gänsehaut bekommen.




Ihr entgeht nichts...

Es folgt der Heldenplatz mit mittigem Teich, der auch "See der Tränen" genannt wird.  Rechts stehen 6 m hohen Figuren in diversen Szenen und links befindet sich, soweit ich mich erinnere, ein Wandrelief mit einer Fahne.



Geradeaus befindet sich ebenfalls ein großes Relief, auf dem die siegreichen Rotarmisten und auch die unterlegenen Kommandeure der Wehrmacht dargestellt sind, genauso wie jubelnde siegreiche Soldaten.


Durch eine Öffnung in dieser Wand geht man wie in eine Grotte mit großem Kegeldach und gelangt in die große "Halle des Ruhms" mit der ewigen Flamme, die von einer großen Hand gehalten wird und wo Soldaten Ehrenwache halten. Vom einem Band läuft ununterbrochen leise Musik, die Träumerei von Robert Schumann.



Etwa 7200 Namen wurden in die umlaufende Wand eingraviert, stellvertretend als Erinnerung an hundertausende Soldaten, die in dieser Schlacht starben.


Auf einem Rundweg entlang der Mauer verlässt man die Halle und gelangt auf eine Freifläche unterhalb der "Mutter Heimat", den Trauerplatz.
Auch hier ist noch einmal eine weitere monumentale Figur aufgestellt, deren Größe sich am besten im Vergleich zu den Menschen nachvollziehen lässt. Es handelt sich hierbei um eine trauernde Mutter. Bestattet wurde bei dieser Statue der Oberbefehlshaber der 62. Armee der Sowjetunion.


Die kleine orthodoxe Allerheiligenkirche (erbaut 2005) liegt ganz in der Nähe zwischen Bäumen versteckt. Hier kann man der Toten gedenken und nach orthodoxem Brauch eine Kerze anzünden, damit die Seelen der Toten ihre Ruhe finden.



Egal wo man steht, die Statue ist fast von überall her zu sehen.


Noch einen Panoramaweg muss man bewältigen, bevor man endlich zu Füssen der Figur steht.
Leider werden die Grünanlagen gerade renoviert, sodass nichts als ein bisschen Gras und vor allem aber braune Erde zu sehen ist. Für die Statue, die 1967 errichtet wurde, wurden unglaubliche Mengen an Beton und Stahl verbaut. Sie wiegt ohne Sockel etwa 8000 Tonnen -wobei alleine 2400 Tonnen auf das Innenleben, nämlich die Metallkonstruktion entfallen. Sie ist von der Fußsohle bis zur Schwertspitze 85 Meter hoch, eine der weltweit höchsten Figuren und höher als die Freiheitsstatue in New York.
Das Schwert ist ganze 33 Meter lang und wiegt alleine 14 Tonnen! Ihr Gesichtsausdruck ist zum Fürchten.
Die Bezeichnung "Kurgan" gefällt mir wesentlich besser als "Hügel". Kurgan ist ein vorgeschichtliches Hügelgrab. Der Hügel 102, wie er im Krieg hieß, war sehr stark umkämpft und mal hatten die Deutschen, mal die Russen die Oberhand. Hier lagen so viele Tote herum und die Erde war getränkt mit Blut, Metallteilen, Waffen und Munition, dass er eigentlich für mich ein einziges gewaltiges Hügelgrab darstellt. Alleine 34.500 russische Soldaten, die ihr Leben in der Schlacht um Stalingrad verloren haben, sollen auf dem Hügel in einem Massengrab beigesetzt sein!
Von ganz oben kann man bis zum anderen Ufer der Wolga blicken.


Nach meinem Gefühl haben wir ausreichend Zeit zur Besichtigung der Anlage, aber wegen meines brodelnden Innenlebens bin ich heilfroh, als es endlich weiter geht. Nicht nur ich bin von dem "Bauchproblem" befallen. Einige Mitreisende haben es gerade noch aus dem Bus bis zum nächsten Busch geschafft...
Am vorletzten Programmpunkt zwinge ich mich schon sehr zum Aussteigen. Leider muss bereits wieder jemand aus meinem Bus zum nächsten Busch rennen, da sein Magen förmlich explodiert. Ich bewege mich im Schneckentempo, überquere erst nach einer Verschnaufpause die große Strasse.


Das berühmte Panoramamuseum "Stalingrader Schlacht" hat leider geschlossen, aber die Zeit reicht für mich nicht einmal, um wenigstens die paar Schritte dorthin zu gehen. Im Museum wird die Schlacht um den Mamajew- Hügel dargestellt. Außerdem sind Originalgegenstände und Vieles mehr aus dem Krieg zu sehen.
Immerhin kann ich einen Blick auf die ziegelsteinrote Grudinin- Mühle werfen, die man als Mahnmal so hat stehen lassen, wie sie am Ende der Kämpfe um das damalige Stalingrad aussah.  Ich las, dass sie mittlerweise mehr als baufällig sei, weswegen man sie auch nicht mehr betreten darf.




Auf dem Rasen und der Freifläche daneben hat man ein diverse Militärfahrzeuge aus dem Krieg aufgestellt. Kinder klettern mit Begeisterung auf ihnen herum, und die Eltern halten strahlend mit ihren Smartphones die Szenen fest. Der "Kinderreigen" ist eine Kopie. Das Original stand vor dem Krieg vor dem völlig zerstörten Hauptbahnhof, auf dessen Nachbau wir vom Bus aus im Vorüberfahren einen kurzen Blick werfen konnten.
Die Grudinin- Mühle Nr.4 hieß ursprünglich einmal Gerhardt- Mühle. Alexander Gerhardt wurde 1864 in dem Dorf Straub als Kind von Wolgadeutschen geboren und gründete ein erfolgreiches Handelshaus, erbaute 1900 eine Dampfmühle, die abbrannte und 1908 neu und nach fortschrittlicher Bauweise mit einem Stahlbetonskelett versehen errichtet und mit roten Ziegelsteinen ummantelt wurde. Nach 1917 wurde er enteignet. Die Mühle wurde nach einem ermordeten Parteifunktionär benannt und Gerhardt bis zu seinem Tod 1933 in einem Stalingrader Gefängnis zahlreichen Schikanen ausgesetzt.
Leider scheint das Thema der Wolgadeutschen politisch eher unter den Tisch gekehrt worden zu sein. Erhellendes über dieses Thema habe ich auf der Reise von niemandem nicht zu hören bekommen.

Hinter einer Mauer steht ein historischer Zug, auf den ich einen kurzen Blick von weitem werfe, um dann zum Bus zurück zu schleichen.
                                                



An der Uferpromenade hat man ellenlange Bilderwände mit Dokumentarfotos aus dem Krieg aufgestellt.

       
 Wir besuchen zuletzt noch die Allee der Helden, von der ich herzlich wenig mitbekomme, da ich mich wegen meines Kreislaufdurcheinanders zunächst einmal auf eine Parkbank lege.
Später schaffe ich es dann doch noch, meiner Neugierde nachzugeben und mir die Pappel anzuschauen, die als einziger Baum in der Innenstadt den Krieg überstanden haben soll. Es habe keinerlei Grün mehr gegeben in den Trümmern, bis dieser Baum kraftvoll wieder ausgeschlagen habe. Das ist ja schon ein kleines Wunder.



Am Ende der Allee ist eine neue Kathedrale im Bau bereits weit fortgeschritten, davor brennt ein weiteres Ewiges Feuer zur Erinnerung an die Toten des Krieges, und überall stehen große Plakatwände, die an den 9. Mai erinnern.



Nun geht es endlich zurück zum Schiff, das ja an Schleuse 8 auf uns wartet. Noch eine ganze Stunde im Bus, was für eine Vorstellung!
Lange spielt mein Körper auch nicht mehr mit, und ich kündige Ute, die neben mir sitzt an, dass ich gleich in Ohnmacht fallen könnte. Merkwürdigerweise konnte ich das die wenigen Male, die es mir bisher passiert ist, immer ankündigen. Somit braucht sich niemand zu erschrecken, meine ich jedenfalls.
Mein Gewicht hatte ich bereits in die richtige Richtung verlagert, als Ute dann doch ziemlich überrascht ist. Ein kleines bisschen dauert es wohl, bis ich wieder meine Augen aufmache. Immerhin fühle ich mich danach kreislaufmässig minimal besser, die Magenrevolte jedoch geht weiter. Ich schaffe es gerade noch bis ins Badezimmer der Kabine...

Ich bin richtig froh, dass ich mich durch den Tag gequält habe. Emotional und körperlich war es ein extrem anstrengender Tag, aber missen möchte ich ihn nicht.
Zum Glück ist morgen ein Flusstag, den ich zur Erholung nutzen werde.
Die Alexander Borodin wird sich in der Zeit nach Astrachan bewegen.

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