Donnerstag, 9. Mai 2019

Raketenwerfer und Traumkutschen

9.5.19

Während die Sportlichen schon früh am Morgen ihre Runden drehen, haben einige der älteren Herrschaften es sich bereits vor dem Frühstück zum ersten Schläfchen in der Sonne bequem gemacht. Das Schiff lässt sich nicht beirren und fährt stur in Richtung Uljanowsk.
Heute ist der 9. Mai, der "Tag des Sieges",  ein wichtiger Feiertage in Russland, und wir werden ihn in Lenins Geburtsstadt verbringen..



Aus dem Lautsprecher ertönen die Fakten über die uns heute zu erwartenden Ereignisse, sowie Daten und Fakten zur Stadt und Region. Leider reihen sich Wichtiges und Unwichtiges in ziemlich monotoner Gleichmäßigkeit aneinander. Ich schalte mein Gehirn ab. Es ist mir zu viel und kommt zu schnell. Draussen gibt es viel zu sehen. Hinter den vielen Kränen liegt der Flusshafen, und vom Schiff aus erkennt man ein paar Häuser von Uljanowsk.



Die vor fast 400 Jahren als Festung gegründete Stadt hieß bis zu Lenins Tod 1924 Simbirsk.
Die Umbenennung von Städten war in Russland seit der Oktoberrevolution 1917 in Mode. Manche mussten mehrfach dran glauben, nur weil gerade ein hochverehrter Genosse der Stadt geehrt wurde. Manche erhielten ihre alten Namen zurück. Simbirsk mit seinen jetzt mehr als 600.000 Einwohnern war nicht dabei.
Uljanowsk liegt strategisch günstig auf etwa 80 Meter über dem Wolgaufer. Das war ideal, um etwaige Angreifer abzuwehren, da man stromauf- und abwärts die Wolga überblicken konnte.
Die Stadt breitet sich zu beiden Seiten des Kuibyschewer Stausees, des größten Europas und des drittgrößten weltweit  aus, überwiegend am rechten Ufer. Der Stausee ist 600km lang und hier bis zu 20 km breit!
Luftlinie sind es 700 km bis nach Moskau, auf 25 Stunden Fahrtzeit mit der Eisenbahn -der Weg ist länger-  muss man sich einrichten.
Die Stadt ist ein heute bedeutendes Industriezentrum, auch deutsche Firmen wie z.B. Schaeffler sind mit dabei.
Wie auch in Samara, so gab es hier ein Lager für deutsche Kriegsgefangene, das Lager Nummer 215.

In der Region gibt es 29 "Siedlungen städtischen Typs" Den Ausdruck höre ich täglich aus dem Lautsprecher. Um diesen umständlichen Begriff für mich zu klären, habe ich einmal Wikipedia befragt.   Hier die Antwort:

Die Siedlung städtischen Typs ist von der Größe her eher dem Dorf zuzuordnen, von seiner Infrastruktur jedoch städtisch, beispielsweise durch mindestens eine große industrielle Ansiedlung. Merkmal war bei der Definition meist, dass der wirtschaftliche Schwerpunkt des Ortes nicht in der Landwirtschaft lag.

Ist jetzt alles klar?

Wir steigen um 10 Uhr in den Bus und sind gespannt, ob wir von den landesweiten Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Kapitulation etwas zu sehen bekommen.

Er ist schon früh unterwegs.
Der 8. Mai gilt eigentlich offiziell als Kriegsende. Russland feiert den 9. Mai. Wen es interessiert, der kann sich belesen. Es dauerte ein bisschen, bis ich einigermassen durch die Querelen der Alliierten durchgestiegen bin, die wahrscheinlich hinter diesem Datendurcheinander stecken. Auch der 7. Mai spielt eine Rolle bei der Angelegenheit.
Bereits bei dem Weg zur Innenstadt herrscht dichtes Gedränge überall. Mit Blumensträußen oder Luftballons in den Landesfarben in den Händen strömen die Menschen zur Parade. Wer noch nichts davon hat, kann sich am Wegesrand eindecken.


Die vorgesehen Routen kann der Bus nicht nehmen. Überall sind Absperrungen. Glückliches Aufstöhnen ist im Bus zu hören, als die örtliche Reiseleiterin fragt, ob wir gut zu Fuß seien. Dann dürften wir jetzt aussteigen. Es sei nämlich kein Durchkommen mehr mit dem Bus.
Ausrüstungsmäßig können wir natürlich nicht mithalten, keiner von uns hat ein militärisches Kleidungsstück, eine Flagge, oder ein (Kunststoff-) Gewehr dabei.
Wenn ich mir die Kinder anschaue, fühle ich mich fast wie in einer fremden Welt. Das ist eine total andere Sozialisation als ich sie kenne, und die läßt sich nicht oft so geballt erleben wie heute.



Es sieht aus, als sei die ganze Stadt auf den Beinen. Wer nicht, wie oben privat unterwegs ist, hat seine Zuteilung in der Gruppe bekommen. Alle Altersstufen scheinen vertreten zu sein. Der Vielfalt der Uniformen scheint keine Grenze gesetzt zu sein.






Alles strömt zur Parade, der Geräuschpegel hat sich schon erheblich erhöht. Wir werden in eine bestimmte Richtung dirigiert und können dem Treiben ein wenig zuschauen.

Die Bahn fährt in einer Endlosschleife durch die Stadt.
Auch Genosse Stalin ist mit von der Partie.
Ich kann meinen Hals lange recken, näher komme ich nicht ran...
Riesige Bildschirme übertragen die Parade.
Die Aufmärsche scheinen kein Ende zu nehmen.
Wir sollen nun weitergehen, was sich natürlich ziemlich zähflüssig gestaltet. Es gibt viel zu sehen. Hinter den großen Menschenmengen tragen Schüler und Schülerinnen Gedichte vor, Bücher mit Inhalten über die Kriegsjahre, den Sieg und ruhmreiche Gestalten werden angeboten und stossen auf viel Interesse.
Mal treiben die Rauchschwaden von den Grillstationen in unsere Richtung, dann kommen die Allerkleinsten schon uniformiert daher, reiten auf Ponys mit Petticoat oder Flügeln und kriegen ihre ersten Lektionen über Patronenhülsen. Aber auch in Kutschen kann man sich heute herumfahren lassen!

Die Kappe gab es wohl in der gut sortierten Babyabteilung.
Viel wird nicht gegrillt, dafür raucht es um so mehr.
Fähnchen gibt es an vielen Ständen, die Mützen offenbar auch.
Das Pony macht alles mit.
Auch den Petticoat trägt das Pony mir Würde.
Mit solchen Flügeln schwebt man fast!
Die jungen Männer warten auf etwas, und einer hat eine Idee.
Der kleine Kerl soll die Gewehrpatrone anfassen und bestaunen.
Mama fotografiert, aber trotz Verstärkung ist ihm das Ding nicht geheuer.
Diese Herren sammeln sich gerade.
Und jetzt geht's los zum Platz.
Wir gehen in die andere Richtung, voll ist es überall.
Einer von mehreren Bücherständen.
Mutter Heimat aus Kacheln macht auch einen interessanten Eindruck.
Auf den breiten Strassen tummeln sich Traumkutschen.
Gold oder lieber Rot gefällig?
Raketenwerfer und sonstiges Gerät
Die Geräusche der Motoren wirken befremdlich auf mich. Gänsehaut...
Lockende Angebote gibt es unter dem Erinnerungsfoto.
Die Auswahl ist groß.
Manche Kinder haben auch ohne Militarylook ihren Spaß.
Die Hoffnung, mehr von der Parade zu sehen, erfüllt sich nicht. Obwohl weiter unter riesigen Bildschirmen und vollen Tribünen Fahnen geschwungen werden und marschiert wird, entscheidet unsere Reiseleiterin nach kurzem Nachdenken, dass die Paraden schon vorbei seien. Ich nehme an, sie muss sich an die Vorgaben halten, und dazu gehört, dass wir jetzt schnurstracks nicht in das schöne rote Gebäude gehen. Das ist nämlich nur das "Haus der Offiziere".


Der riesige Betonklotz gegenüber ist unser Ziel, das Lenin- Museum, oder auch "Memorialkomplex W. I. Lenin" genannt, das während der Breschnewzeit 1970 eröffnet wurde. Der wurde genau da errichtet, wo sich früher der mächtige hölzerne Kreml von Simbirsk befand.

das Lenin Museum auf großem Platz
Begrüßungskomitee
Die Vitrinen sind vollgestopft, die Wände reichlich
 behangen. Rot ist die dominierende Farbe, und ein
 wenig schummrig ist es.
der Revolutionär bei der Arbeit
Diorama des historischen Simbirsk
Simbirsk vor den verheerenden Bränden
die Hauptperson 

Am oberen Ende der Stufen kommt man in eine Art Kathedrale. Lenins Statue ist hier sorgsam in Folie verpackt. Der Raum wartet auf seine Renovierung. An diesem feierlichen Ort wurden Studenten und Schülern ihre Auszeichnungen verliehen.
Genau gegenüber könnte Lenin(1) den  Lenin (2) anschauen, wenn der eine nicht verpackt wäre. Eine Wärterin möchte unbedingt ein Foto machen von mir. Warum nicht?







 Jetzt wird das Licht noch sparsamer. Wir durchlaufen die Ausstellung mit vielen Kriegserinnerungen.




Der Weg führt die Treppe runter und direkt zu den Souvenirs...





Das Beste im Museum waren für mich die Darstellungen der früheren Stadt Simbirsk. Der größte Teil der Stadt mit ihren Holzbauten, die aussergewöhnlich vielen Kirchen und der bestens befestigte, aus Holz erbaute Kreml wurden durch Brände Mitte des 17. Jahrhunderts fast vollständig vernichtet
Wir haben unseren Zeitplan, es geht raus und warten draußen auf den Bus, der zusehen muss, wie er die Absperrungen umgeht. Wir sind ja nicht mit einem militärischem Fahrzeug unterwegs...





Die Strassenbahnen sehen schon etwas mitgenommen aus, verkehren aber in kurzen Abständen flott durch die ganze Stadt auf der rechten Wolgaseite. Linksseitig sind Trolleybusse unterwegs.

Ob ich nun wissen muß, wo Lenin in die Schule ging, wo er seine Bibliothek hatte und in welchen sechs Häusern er zur Miete wohnen musste, bis sich seine Eltern endlich ein Haus kaufen konnten, das bezweifle ich.
Aber in der Strasse, in der sich das gelbe Haus befindet, in dem er 10 Jahre seines Lebens verbracht hat, hätte ich mich gerne etwas länger umgesehen. Hier stehen einige schöne historische Holzhäuser, in denen die "besser gestellten Leute" der Stadt wohnten, zu denen auch Lenins Familie gehörte.




Durch das Gebäude geht es hindurch, wie man am Andrang sieht...


Das gelbe Haus darf in einer Führung besichtigt werden. Man sieht den Flügel der Familie, die offenbar recht musikalisch ist. Auch Schach wird hier gespielt und an einem großen Tisch gemeinsam gegessen.  Im ersten Stock stehen vorwiegend viele Betten, entsprechend der Kinderzahl eben.
Im Garten stehen ein paar Nebengebäude.





In diese Laube soll sich die Familie zum abendlichen Singen zurückgezogen haben.


Nun wird es Zeit zum Aufbruch. Ich kann mir vorstellen, dass die Reiseleiterin noch zur Parade möchte. Daher erreichen wir das Schiff auch gut eine Stunde bevor die angekündigten 4 Stunden Ausflug um sind, die aber vorsichtshalber auch immer als ungefähre Zeiten angegeben sind...
Von der Innenstadt haben wir so gut wie gar nichts gesehen, es reicht gerade noch für ein paar Blicke aus dem Bus.



Es gäbe noch genug zu sehen, irgendwie bin ich frustriert.
Uljanowsk wird bestimmt nicht mein Favorit dieser Reise werden!  Ob es besser gewesen wäre, wenn wir an einem anderen Tag gekommen wären, oder wenn wir die Feierlichkeiten hätten erleben können, das kann ich natürlich nicht erraten.
Am Schiff angekommen, stehen schon die Gäste vom Nachbarschiff bereit, um in die Stadt zur Parade zu fahren. Ihre "Ausrüstung" haben sie schon dabei.


Zeit bis zur Abfahrt bleibt nun reichlich. 5 Stunden müssen auf dem liegenden Schiff vertrödelt werden!
Leider liegt der Flusshafen sehr abgelegen. Es gibt keine Verbindung in die Stadt. Durch das hohe Wolgaufer kann man die Stadt vom Ufer aus nicht einmal sehen. Eine Uferpromenade ist hier auch nicht ausgebaut. Alles sehr schade!

Nach dem Essen mache ich einen ausgiebigen Mittagsschlaf. Um 17.00 geht es weiter. Ziel: Kasan.




Heute gibt es ein Feiertagsessen!




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